Viele Menschen in meinem Umkreis haben etwa so auf die Info reagiert, dass demnächst eine neue Fred Vargas erscheinen würde: Endlich! Ich habe soooo lange darauf gewartet!
Viel mehr Menschen vermissten also einen neuen Band der französischen Autorin, als ich es erwartet hätte. Aber klar, Vargas hat dermassen einzigartige Figuren geschaffen und so unverwechselbare Geschichten erzählt, dass sie einem mehr als die meisten anderen AutorInnen im Gedächtnis bleibt.
Für mich hat sich das Warten gelohnt.
Ein eigenes Genre: der Märchenkrimi
Der neue Band (der erste seit „Der Zorn der Einsiedlerin“ 2018) spielt in der Bretagne; Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg zieht mit seinen ErmittlerInnen in den Gasthof eines Dorfs. Dort spielen ein Geist mit Holzbein, Flöhe und ein Nachkomme des Schriftstellers Chateaubriand bei einer Mordserie entscheidende Rollen.
Mich haben Zutaten dieses Romans verzaubert, die jenseits der oftmals skurrilen Krimihandlung liegen: z.B. die skurrilen Eigenarten der ErmittlerInnen, so muss Noel Mercadet alle vier Stunden schlafen, ist aber unverzichtbar, weil er ein begnadeter Hacker ist. Oder: Die Kollegin Violette Retancourt kann ihre grenzenlose Energie in jede beliebige Erscheinungsform verwandeln, von Kampfkraft über Schnelligkeit bis Liebreiz. Adrien Danglard ist alleinerziehender Vater von 5 Kindern und weiß über jedes Thema umfassend Bescheid. Wohltuend finde ich auch die Wärme, die dieses Buch ausstrahlt: vom Gasthofbesitzer, der die ErmittlerInnen liebevoll bekocht bis zu Adamsberg, der aufmerksam seine Truppe umsorgt.
Sehr ungewöhnlich auch, wie Adamsberg zu seinen Ermittlungserfolgen kommt: er wartet, bis Eindrücke, Erinnerungen, Gedanken aus dem Schlamm seines Gedächtnisses emporsteigen, wie es heisst, sich dann neu miteinander verbinden und schließlich ein Bild ergeben.
Vargas hat mit diesem Buch endgültig ein neues, eigenes Genre erschaffen: den Märchenkrimi.
Ganz nebenbei nimmt sie dabei mit subtiler Ironie höchst reale Entwicklungen wie die Spaltung der Gesellschaft ins Visier: mit der vehement geführten Auseinandersetzung um die „Schattentreter“. Es bringe Unglück, wenn man auf den Schatten eines Menschen tritt, behauptet das eine Lager, reiner Aberglaube und totaler Quatsch, versichert das andere Lager genau so unversöhnlich. Dialog zwischen beiden Lagern: ausgeschlossen.
Viele KritikerInnen waren von diesem Buch enttäuscht - ich finde es großartig.
Eine ganz besondere Autorin
Fred Vargas ist Archäologin; mit ihren Reihen um Kommissar Adamsberg und seine Truppe sowie Kommissar Kehrweiler und die vier Evangelisten stürmt sie seit Jahren die Bestsellerlisten. Sie wurde mit unzähligen Preisen ausgezeichnet. 2019 veröffentlichte sie mit L’Humanité en péril. Virons de bord, toute! ein Sachbuch zum Klimawandel, das im Mai 2019 zu den meistverkauften Sachbuchtiteln in Frankreich gehörte.
Fred Vargas, Jenseits des Grabes, Limes, ET 8.5.2024, Deutsch von Claudia Marquardt, 526 S., 26 Euro
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